Der Vogel
- Asja
- 24. Mai 2007
- 8 Min. Lesezeit
Eigentlich hatte sie keine Lust, über den Markt zu gehen, aber die Einsicht, dass ihr Vorrat dringend aufgefüllt werden musste, trieb sie dennoch aus dem Haus. Es war ein herrlicher Frühsommertag und irgendwie roch heute alles ein bisschen intensiver. Die Menschen schienen fröhlicher und das Knirschen der Steine unter ihren Schuhen klang nach einer entfernten Kindheitserinnerung.

Sie entdeckte den kleinen, unscheinbaren Stand im äußersten Winkel des Marktes nicht sofort, aber als sie ihn sah, wusste sie, dass sie ihn dort noch nie gesehen hatte. Neugierig trat sie näher und entdeckte schon im ersten Moment den wohl schönsten Vogel, den sie je gesehen hatte. Er sang in den klarsten und hellsten Tönen; hatte das bunteste, schillerndste Gefieder, das sie sich vorstellen konnte und zauberte nur allein durch seine bloße Gegenwart ein Lächeln auf ihre Lippen. Kein anderer der Marktbesucher schien diesen außergewöhnlichen Vogel wahrzunehmen, aber das war ihr nur recht, denn sie wollte ihn haben. So fragte sie den alten, weißhaarigen Mann, der freundlich lächelnd auf einem alten Klappstuhl hinter seinem Marktstand saß, ob der Vogel zu verkaufen sei.
Der alte Mann schüttelte wortlos, aber immer noch lächelnd, den Kopf und sie drehte sich enttäuscht um, um zu gehen. Seine klangvolle Stimme ließ sie herum wirbeln und ihn anstarren, als er sagte: „Ich schenke ihn dir, weil ich weiß, dass du mit ihm das Richtige tun wirst!“ Ein unglaubliches Glück durchfuhr sie und sie fühlte sich plötzlich am Ziel all ihrer Sehnsüchte angekommen. „Sie schenken ihn mir?“, fragte sie ungläubig. Der alte Mann lachte und nahm den Käfig, in dem der Vogel saß, vom Haken. Er reichte ihn ihr über die sonstigen Auslagen, die sie nicht einen Funken interessierten, herüber und setze sich wieder auf den Stuhl.
Verzückt und voller Liebe betrachtete sie den Vogel. Sie hatte das Gefühl, als schaue er sie an und sie fühlte eine tiefe Einigkeit mit dem Tier. Lächelnd drehte sie sich um und ging ein paar Schritte. „Ich hab mich gar nicht bedankt!“, dachte sie plötzlich und warf einen Blick über die Schulter zu dem Marktstand, an dem eben noch der alten Mann gesessen hatte. Er war weg! Irritiert sah sie sich um und es lief ihr ein Schauer über den Rücken. Hastig warf sie einen Blick in den Käfig. Gott sei Dank! Der Vogel war noch da und starrte sie unverwandt an. Sie lächelte ihn an und flüsterte: „Ich werde das Richtige tun, um Dich glücklich zu machen!“
Als sie zu Hause ankam stellte sie den Vogel an den schönsten Platz, den sie in ihrer Wohnung finden konnte. Direkt auf den kleinen Tisch beim Fenster, sodass der Vogel nicht dem Wind ausgesetzt war, aber eben doch die Sonne fühlen konnte, die durch das Fenster wärmend auf sein buntes Gefieder schien. Tagelang saß sie bewundernd vor dem Käfig und sah den Vogel an. Sie sah ihn an, wenn er schlief. Sie sah ihn an, wenn er wachte. Sie sah ihn an, wenn er sang, wenn er sich putzte und wenn er einfach nur das saß und sie ansah. Sie liebte diesen Vogel mit jeder Faser ihres Körpers und nur das beste Futter war gut genug für ihn. Täglich bekam er mehrmals frisches Wasser in den Käfig gestellt und sang zu ihrer Freude als Dank dafür. Liebevoll betrachtete sie ihn und studierte jede seiner Eigenarten und nahm jede noch so winzige Kleinigkeit seines Tuns tief in ihrem Herzen auf.
Freunde, die zu Besuch kamen, mussten den Vogel bewundern. Viele sahen sie zweifelnd an und sagten: „Naja, es ist ein Vogel!“ „Aber sieh doch mal genau hin, wie bunt und glänzend sein Gefieder ist!“ „Er ist schwarz!“, lachten ihre Freunde. Sie war brüskiert! „Hör doch, wie schön er singt!“, forderte sie ihre Freunde erneut auf. „Er krächzt!“, meinten diese kopfschüttelnd. Sie verstand die Welt nicht mehr. Warum sahen sie denn nicht seine bezaubernde Schönheit? Warum verfielen sie nicht seinem glasklaren Gesang?

Eines Tages betrat sie das Zimmer, in dem der Vogelkäfig stand und entdeckte zu ihrem Entsetzen, dass zwei Federn des Vogels zu Boden gefallen waren. Jeden Tag kam eine Neue hinzu und das Singen des Vogels war immer seltener zu hören. Sie kaufte noch besseres Futter und wechselte noch häufiger das Wasser, aber nichts half.
Nächtelang weinte sie nun vor dem Vogelkäfig und musste sich im Laufe der Zeit eingestehen, dass der Vogel, der nur noch den Kopf ins Gefieder unter seinem Flügel steckte, unglücklich bei ihr war. Ihre innere Stimme sagte ihr jeden Tag, was zu tun sei, aber sie weigerte sich. Nein, sie konnte diesen wunderschönen Vogel niemals frei lassen!! Das war ihre persönlichen Apokalypse! Was sollte sie ohne den Vogel tun? Sie liebt ihn aus reinstem Herzen und konnte sich einfach kein Leben ohne ihn vorstellen!
Trotzdem sah sie ihn von Tag zu Tag mehr leiden und litt mit ihm. Sie wollte diesem wunderbaren Geschöpf nicht wehtun, dessen war sie sich sicher, aber sie konnte ihn einfach nicht frei lassen! Es wäre niemand mehr da, der für sie sang! Niemand, den sie stundenlang betrachten konnte! Kein Scharren mehr des Nachts, wenn sie wach in ihrem Bett lag! Wie sollte sie das aushalten? Nein, der Vogel musste dort auf seinem Platz bleiben! Ohne ihn ging es nicht. Nie! Dessen war sie sich sicher.
Und trotzdem: sie wusste, dass er unglücklich war. Sie weinte bei dem Gedanken ihn zu verlieren, aber sie ertrug seinen matten Blick einfach nicht mehr, wenn sie morgens in seinen Käfig sah. Sie streichelte sein stumpfes Gefieder und bat ihn flüsternd, er solle doch bitte noch ein einziges Mal für sie singen, aber der Vogel blieb stumm.
„Ich schenke ihn dir, weil ich weiß, dass du mit ihm das Richtige tun wirst!“, schossen ihr irgendwann die Worte des alten Mannes durch den Kopf. Sie musste das Richtige tun!! Aber was war das Richtige? Das Futter war gut, das Wasser frisch und sie liebte ihn doch! Was sollte es noch besseres für ihn geben? Im Grunde ihres Herzens kannte sie die Antwort, aber der Gedanke, ihn in die Freiheit zu entlassen und ihn nie wieder zu sehen, zerriss sie förmlich.
Vor Kummer und Gram schlief sie schlecht, aß nichts mehr und ging nicht mehr aus dem Haus. Was sollte sie nur tun? Wie sollte sie etwas, das sie so sehr liebte, nur frei lassen können? Was konnte ihm dort draußen nicht alles passieren? Was war, wenn die Nächte zu kalt und die Tage zu heiß würden? Was war mit den wilden Tieren? Was würde passieren, wenn er kein Futter fand? Sie weinte. Sie trauerte. Sie konnte ihn nicht fliegen lassen!
„Ich schenke ihn dir, weil ich weiß, dass du mit ihm das Richtige tun wirst!“, hörte sie wieder die Stimme des alten Mannes sagen. Es ging ihr so schlecht, dass ihre Freunde sich zurückzogen. Keiner verstand, warum sie wegen eines schwarzen, krächzenden Vogels so litt und man erklärte sie für verrückt. Wieder und wieder betrachtete sie den Vogel, der nur noch ein jämmerliches Abbild dessen war, was er einst gewesen war. Sie konnte nicht mehr weinen und alle Tränen schienen aufgebraucht, als sie sich eines Tages angesichts des Zustandes des Vogels entschloss, das Fenster zu öffnen. Eine vage Hoffnung in ihr flehte: „Vielleicht fliegt er gar nicht weg! Vielleicht bleibt er ja doch mir. Er weiß doch, wie sehr ich ihn liebe!“
Matt hüpfte der Vogel auf die Fensterbank und blieb für einen Moment in der Sonne sitzen. Sie konnte sehen, wie sich sein kleiner Brustkorb hob und senkte. Plötzlich breitete er sein Flügel aus und flog. Er flog erst ein bisschen unsicher, dann immer sicherer. Er flog und sang. Er sang so schön wie an dem Tag, an dem sie ihn auf dem Markt entdeckt hatte. Er zog ein paar Kreise über den Baumwipfeln des Parks vor ihrem Fenster und stieg dann immer höher in den Himmel hinauf.
Zwischendurch, so sah es zumindest aus, drehte er sich um und sah liebevoll auf sie herab. Aber sie war sich nicht sicher und meinte sich zu täuschen. Er schwang sich in den Himmel über der Stadt auf und sie konnte sein Singen nur noch entfernt wahrnehmen.
Plötzlich durchströmte sie ein unsagbares Gefühl der Liebe und Erleichterung. Sie hatte ihn es das war, was der alte Mann auf dem Markt gemeint hatte. Er hatte nicht das gute Futter, das frische Wasser und ihre endlose Liebe gemeint. Er hatte die Freiheit des Vogels gemeint. In diesem Moment waren all die Ängste über den Verlust des Vogels in ihr verschwunden und sie verstand, dass es genau so gut war, wie es war. Sie durfte ihn lieben, aber um glücklich zu sein, musste er nicht im Käfig beim Fenster stehen. Sie gewährte ihm das, was für ihn das Wichtigste war: seine Freiheit. Und das tat sie, weil die Liebe in ihr schlussendlich alle Zweifel und Ängste ausgelöscht hatte.
Müde setzte sie sich nieder und es ließ ihren Träne freien Lauf. Sie meinte einen kleinen schwarzen Punkt am am Horizont wahrzunehmen und wusste einfach, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, auch, wenn ihr nun das Herz mehr als schwer war.

In den ersten Tagen war sie wie betäubt. Sie fühlte nichts. Keinen Schmerz, keine Wut, keine Trauer, keine Liebe. Einfach nichts. Wortlos ging sie ihrem Tagwerk nach, reinigte den Käfig und stellte ihn in den Keller. Irgendwann übermannte sie eine tiefe Trauer, aber sie konnte nicht weinen.
Gedankenverloren saß sie oft mit einer seiner Federn am Fenster und schaute in den Himmel. Der Vogel fehlte ihr. Er fehlte ihr so sehr, wie noch nie und nichts jemals in ihrem Leben zuvor. Manchmal holten sie dunkle Phantasien ein, wie es dem Vogel, den sie so sehr liebte, wohl nun ging und was ihm passierte, aber sie wischte diese schnell weg. Sie erinnerte sich gerne an seinen wunderschönen Gesang und hielt dabei die Feder in ihren Händen. Manchmal weinte sie, weil sie ihn vermisste, aber sie hoffte, dass es ihm nun besser ging, weil er das Wichtigste hatte, was er haben konnte: seine Freiheit.
Irgendwann schaute sie immer weniger in Himmel. Irgendwann saß sie nicht mehr am Fenster und wartete. Sie nahm wieder den Kontakt zu ihren Freunden auf, kaufte sich ein neues Kleid und strich ihre Wohnung in einer neuen Farbe. In manchen Nächten dachte sie voller Liebe an den Vogel und schickte ihm all ihre Liebe in die Nacht. Sie ahnte, dass dieses Gefühl bei ihm ankam.
Eines Nachmittags, als sie in ein Buch versunken, das sie am Tag zuvor gekauft hatte, auf ihrem Sofa saß, hörte sie ein merkwürdiges Geräusch. Irritiert schaute sie von ihrem Buch auf und blickte im Zimmer umher. Was war das? Ein Schatten schien vor ihrem Fenster hin und her zu huschen. Langsam stand sie auf, legte das Buch zur Seite und ging auf das Fenster zu. Sie traute ihren Augen nicht! Dort auf dem Fensterbrett saß der Vogel! Einfach so, als sei er niemals fort gewesen.
Sie öffnete das Fenster und er hüpfte zu ihr hinein. Langsam streckte sie die Hand aus und berührte ihn ungläubig, als habe sie Angst, er sei nur eine Illusion. Sein Gefieder war wieder dicht und glänzte wunderschön in den schillerndsten Farben. Er flog auf ihre Schulter und sang. Er sang so wunderschön, dass ihr die Tränen liefen. Er schmiegte seinen Kopf an ihren Hals und knabberte zärtlich an ihrer Haut. Sie konnte ihr Glück kaum fassen: er war zurückgekehrt!
Von nun an öffnete sie jeden Tag das Fenster und er flog hinaus in den Himmel. Jeden Tag kam er zur gleichen Zeit zurück, landete auf ihrer Schulter, schmiegte seinen Kopf an ihren Hals und sang für sie. Sie ließ den Käfig im Keller und versuchte nie wieder ihn einzusperren. Sie hatte gelernt: von nun an kam er freiwillig und aus Liebe zu ihr, nicht, weil sie es wollte oder brauchte. Dieses Geschenk war für sie um so Vieles größer, als all die Stunden, die sie früher im vermeintlichen Glück vor dem Käfig gesessen hatte, um sich an ihm zu erfreuen.
Manchmal dachte sie an den wunderlichen, alten Mann auf dem Markt und fragte sich, wer er wohl gewesen war. Seine Worte hallten oft in ihrem Kopf nach, wenn sie den Vogel liebevoll streichelte: „Ich schenke ihn dir, weil ich weiß, dass du mit ihm das Richtige tun wirst!“
© Asja, Mai 2007
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