Kartenleger und andere Quarktaschen
- Asja
- 19. März 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. März 2024
Manchmal, wenn ich das Gefühl habe, es passt mit einem Menschen, sage ich: ich bin ein spiritueller Mensch. In den letzten Jahren merke ich jedoch immer mehr, wie schwer ich mich damit tue. Es liegt an dem Bild, das mehr und mehr verkauft wird.
Vor 38 Jahren (ich war 13) drückte ich mich auf der Suche nach der neusten Teenager-Lovestory in der Buchhandlung herum und fand mich irgendwann vor einem kleinen, unscheinbaren Regal wieder, über dem "Esoterik" stand. Neugierig zog ich ein Buch mit dem Titel "Das Erlebnis der Wiedergeburt" hervor, las den Klappentext und versank noch im Laden in intensivster Lektüre. Natürlich kaufte ich das Buch und beendete damit an diesem Tag meine gesamte Belletristik-Karriere.
Damals begann meine Reise durch die bunte Welt der Esoterik und so rückte ich in den nächsten über 20 Jahren Gläser, experimentierte mit dem Ouija Board, legte Karten, warf Runensteine oder orakelte mir in anderer Art und Weise die Seele aus dem Leib. Ich hatte Erscheinungen der unterschiedlichsten Art: von Auren (oder was ich dafür hielt), über Bänder aus blauem Licht und irgendwann saß mir sogar mal der tote Freund einer Bekannten gegenüber. Nur Erzengel Gabriel und Kollegen zieren sich bis heute, mir zu erscheinen. In meiner mystischen Welt wartete ich ein ums andere Mal in irgendwelchen Telefon-Warteschleifen mit bollywoodähnlichen Klängen, machte mehr geführte Phantasiereisen als reale Urlaube, finanzierte Hellsehern wahrscheinlich die halbe Finca auf Malle und war irgendwann nahe dran, zu denen zu gehören, die keine Entscheidung mehr ohne Pendeln treffen können. (Wenn ich auch schnell erkannte, dass ich in der Lage war, das Pendel bewusst steuern zu können - was für eine Gabe! Pah!)
Natürlich bestand mein halber Freundeskreis aus speziellen Menschen, die alle irgendwie das Licht gesehen hatten und das meine grüßten. Ich lernte Gurus kennen, die beide Hände am Kinn zum Gruße zusammenführten und ein fröhliches "OM" singsangten, während sie versuchten andere als erleuchteter Meister auf den Pfad der Erkenntnis zu schubsen. Dabei waren es so himmelschreiende menschliche Arschlöcher, dass ich mich vor Wut fast vergaß. Die Lösung war einfach. Wer war die mit dem Problem? Richtig! ICH. Weil ich mich von meinen niederen Emotionen hinreißen ließ. Beten Sie 666 Rosenkränze und kommen dann geläutert zurück. Ach, warte... das war der andere Verein!
Auf der Suche nach meinem Seelenpartner (oder wie es in diesem hübschen esoterischen Konzept auch heißt: Dualseele oder Twinflame) stand ich irgendwann der vollkommenen Verkörperung von D’Artagnan gegenüber: langer Ledermantel, Biker-Boots und langes schwarzes Haar (quasi die Erstausgabe von Bülent Ceylan vor 18 Jahren). Da stand er vor meiner Haustür: der Mann meiner absoluten Träume! Und ungefähr vierte oder fünfte Mann meines Lebens! (Wer zählt bei soviel Fügung noch mit?) Ad hoc schlugen Tonnen billiger Liebesroman-Heftchen gnadenlos zurück und die eiligst kontaktierte Kartenlegerin hechelte aufgeregt ins Telefon: "DAS ist er." Ich war sicher: ja, er war es! Karma, Fügung, Kismet, Schicksal, Vorsehung, meine Bestimmung - alles in einem. Ich spürte, wie es mich von Kopf bis Fuß durchdrang. Jede meiner Zellen brüllte seinen Namen und ich schwöre, wenn ich genau hinsah, leuchtete um sein Haupt ein Heiligenschein.
Ende vom Lied war die wohl heftigste blinde und blödeste unglückliche Phase an Verliebtheit meines Lebens, die von meiner Kartenlegerin - natürlich ganz uneigennützig - befeuert wurde. Immer wenn ich sie verzweifelt anrief, weil ich irgendwie das Gefühl nicht loswurde, dass er mich nicht wirklich wollte, flötete sie mir für 1,80 €/Minute ins Ohr: "Geduld!" Und so übte ich mich bis zum Erbrechen in Geduld, während mein Mäuse im Minutentakt durch die Leitung rauchten.
Heute ist die freundlichste Bezeichnung, die ich für solche Menschen aufbringen kann, "spirituelle Spiritisten". Ich erkannte im Grunde schon früh, welches Geschäft hinter der Sinnsuche vieler Menschen steckte, was mich jedoch nicht vor einigen Inkassoverfahren mit etwaigen Astro- und Lebensberatungs-Hotlines bewahrte. Und so häufte ich im Laufe der Jahre, immer auf der Suche nach Antworten, die mir gefielen, Schulden in Höhe eines Kleinwagens an. Die bösen Briefe und Vollstreckungsankündigungen verwahrte ich sicher ignoriert in einem Wäschekorb und nährte mein such(t)endes Hirn von Gratisminuten bis auch diese letztlich ausblieben.
Ich mache niemandem, der in diesem Sektor arbeitet oder sich bewegt einen Vorwurf. Sie bedienen nur ihr Ego und das ihrer Kunden, wie wir es alle tun. Es gilt das simple Prinzip von Angebot und Nachfrage. Verantwortlich ist nicht der Anbieter, sondern der Kunde. Niemand ist gezwungen sich derartig verarschen zu lassen wie ich damals. Verwerflich wird es dann, wenn die Hirnleistung des Kunden der einer Amöbe gleicht, dann ist dieser wirklich ein Opfer, weil ihm sein mangelndes Urteilsvermögen im Wege steht und damit der Verkäufer eine zumindest moralische Verantwortung hat. Meine Hirnleistung jedoch war jederzeit zu mehr in der Lage als die eines fröhlich rudernden Pantoffeltierchens in der Pfütze vorm Haus. Und so musste ich wohl oder übel irgendwann erkennen, dass ich ein ausgewachsenes Sucht- und Abhängigkeitsproblem entwickelt hatte.
Ein kalter Entzug war längst überfällig, nicht nur weil ich inzwischen bei allen möglichen Hotlines gesperrt war, sondern weil ich erkannte, dass mich meine Dualseele mal am Arsch lecken konnte. (Und selbst wenn es eine karmische Verbindung war, löste ich sie für dieses Leben einfach mal auf. Puff, war er weg. Zaubern konnte ich also auch noch. Und verstorben bin ich wider Erwarten auch nicht.)
Mein Name Asja ist die Kurzform des russischen Namens Anastasja, der ursprünglich vom griechischen Anastasios kommt und oft mit "der/die Auferstandene" übersetzt wird. Ich hänge der Theorie und Beobachtung nach, dass Namen Programm sind. Also sollten mir meine Eltern mit der Bedeutung meines Namens eine Art "Programmierung" mitgegeben haben, bin ich ihnen sehr dankbar, denn diese hat mir in meinem bisherigen Leben schon verdammt oft den Arsch gerettet.
So stand ich also irgendwann auch hier wieder auf, riss mich zusammen und stellte mich meinem Wäschekorb volle gelber ungeöffneter Postzustellungsurkunden. Ich öffnete jeden Brief, sortierte sie, schrieb oder rief jeden Gläubiger an, bot Zahlungen an (wenn es auch nur 10 € waren) und zeigte mich kooperativ. Eine Privatinsolvenz wäre für mich niemals in Frage gekommen, weil ich nach dem Motto lebe: die Scheiße, die man sich sehenden Auges eingebrockt hat, darf man auch gefälligst selbst wieder auszulöffeln. Und so zahlte ich als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen meine Schulden in Raten ab, auch wenn es Phasen gab, in denen das nicht immer leicht war. Man staunt, was trotz Hartz IV alles geht, wenn man will.
Wenn mich heute jemand fragt, sage ich immer: die erste Hälfte meines Lebens war so bunt und aufregend - für Karriere hatte ich gar keine Zeit! Aber ich lernte so viel und bin unendlich dankbar für die vielen Wasser, mit denen ich gewaschen wurde, dass mir dies Zuversicht für meine Zukunft schenkt. Zwischen 2022/23 bekam ich ordentlich vom Leben vors Fressbrett und musste an manchen Tagen ordentlich kämpfen. Gestern Abend meinte mein jüngster Sohn zu mir: "Mutti lässt sich nicht unterkriegen." Recht hat er. Und so bestaune ich mit diesem Beitrag heute einfach mal die Kraft der Auferstandenen und spüre ein bisschen in mir, wozu ich wirklich in der Lage bin. Danke fürs Erinnern, mein kluges Kind.
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