Piraten in Nachbars Garten
- Asja
- 13. Feb. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Feb. 2024

Gestern rief mein Mann, ich solle mal schnell aus dem Küchenfenster schauen. Gemeinsam standen wir nun an besagtem Fenster und ich versuchte herauszufinden, was in kindlicher Schrift auf dem Holzstück geschrieben stand.
"Piraten-Arlam", entzifferte ich, "Forsicht." Sofort umfing mich ein warmes, herzliches Gefühl für unseren Nachbarsjungen und zeitgleich tauchten Erinnerungen an meine Zeit als Mutter auf. So wie damals, als ich nach Hause kam und einen Zettel auf der Fußmatte fand, auf den mein 8-jähriger Sohn geschrieben hatte: "Libe Mama, der Schlösel likt unter der Fusmate."Automatisch verknüpft ich das Gefährt des Nachbarjungens mit emotionalen Assoziationen meines Lebens.
Bilder von Lehrern, die sich unzufrieden mit der Rechtschreibung meines ältesten Sohnes zeigten, was später zur Diagnose einer sog. "Teilleistungsschwäche" führte. Manchmal ist das mit solchen Diagnosen, die einem von anderen "zur Erleichterung des Kindes in der Schule" ans Herz gelegt werden, aber so eine Sache: im Nachhinein erweist sich selbige als nichts anderes als ein Stempel auf der Seele eines Kindes.
Mit all diesen blitzartigen Gedanken schlug meine Vorstellung Purzelbäume und ich meinte mehr zu mir als zu meinem Mann: "Jaja, das Kind fügt sich nicht richtig ein. Es ist so unruhig und kaut lieber gedankenverloren auf dem Stift, während es mit den Füßen baumelt, als den Aufsatz zu schreiben. Und das bei dieser Rechtschreibung."
Ich entsann mich, dass die Grundschullehrerin meines ältesten Sohnes seine unzureichende Beteiligung am Unterricht bemängelte und damit die Note gefährdet sah. Mein - wie ich finde - kluges Kind quittierte ihre Aussage damit, dass er sich eben nur dann melde, "wenn er mit dem Denken fertig sei". Ich gestehe: ich empfand diese Aussage eher als sehr lobenswert, da wir alle viel zu oft reden ohne vorher nachzudenken.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie oft sich junge Eltern in solchen Momenten voller Sorge fragen, wohin das im Leben des Kindes bloß führen und was aus ihm werden soll, mit so einer Teilleistungsschwäche. Ob das Kind wohl jemals etwas Gescheites lernen kann, wenn es sich nicht einfügt und lieber mit den Füßen baumelt als Leistung zu bringen? Wie soll das Kind sich selbst nur je ernähren können? Da ist Hartz IV doch vorprogrammiert! Wir brauchen dringend eine adäquate Therapie für unser Kind. Reiten, Lern-Therapie zum Nachteilsausgleich oder doch lieber gleich einen Exorzisten?
Ich trat den Lehrern damals immer wieder ruhig entgegen und erklärte, dass mein Sohn es zugegebenermaßen schaffte in einem Diktat 30 Fehler zu machen, aber andererseits derart voller Mitgefühl für ein totgefahrenes Eichhörnchen sei, dass er es von der Straße "kratze" und beerdige, da die Vorstellung, dass "da noch mehr Autos drüber fahren" könnten, für ihn kaum aushaltbar und unwürdig für das tote Tier sei. Diese Charaktereigenschaft meines Juniors, so wurde ich nicht müde zu verdeutlichen, sei mir persönlich viel wichtiger als jede Rechtschreibschwäche dieser Welt.
Mein Sohn machte übrigens vor einigen Jahren einen sehr erfolgreichen Einser-IHK-Abschluss im Handwerk und strebt inzwischen eine Meisterausbildung an. Für mich ausreichend Beweis dafür, wie viel wichtiger die Wahrnehmung und Förderung der Stärken eines Menschen sind, als seine Schwächen beheben zu wollen. Stärke deine Stärken und vernachlässige deine Schwächen, sagt der Psychologe Prof. Dr. Martin Seligman.
Deswegen: Forsicht! Piraten-Arlam!
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