Radikale Ehrlichkeit
- Asja
- 8. Mai 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Mai 2024
Die Wahrheit von gestern, ist der Bullshit von heute. (Dr. Brad Blanton)
Ein starker Satz.
Blanton sagt, um zu reifen und erwachsen zu werden, müssen wir immer bereit sein, alte Wahrheiten über Bord zu werfen. Brad Blanton ist ein US-amerikanischer Psychotherapeut, Geburtsjahr 1940 und Autor mehrerer Bücher, sowie Entwickler eines Konzepts, das sich "radical honesty" nennt. Ich bin vor kurzem auf diese Arbeit gestoßen und verspreche mir davon einen Schub für meine momentane Entwicklung.
Ich bin das, was man einen "People Pleaser" nennt.
Der Begriff People Pleasing stammt aus dem anglo-amerikanischen Raum und bedeutet "Menschen gefallen". Ein People Pleaser ist also jemand, der anderen Menschen gefallen und es ihnen deshalb möglichst recht machen will. People Pleaser können sich nicht gut von anderen abgrenzen und scheuen den Konflikt. (Quelle)
Ich hab gut 30 bis 35 Jahre meines Lebens damit verbracht, es anderen Menschen recht machen zu wollen: Freunden, Partnern, Bekannten, Arbeitgebern, Kollegen etc. Es gab durchaus immer mal kurze Ausbrüche in Form von Wut (die sich nie direkt gegen den richtete, dem es eigentlich gebührte) oder spitzen, bösartigen Bemerkungen (darin bin ich großartig) bis ich so krank wurde, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Achtzehn Monate nach dem ersten Schlaganfall habe ich den Auslöser für meine Erkrankung identifiziert. So lange hat es gedauert bis ich realisierte, dass ich mich selbst über mindestens 35 Jahre hinweg sukzessive vergiftete. Mit meinem Zorn, meiner Wut und all dem zurückgehaltenen Scheiß, den ich aus Harmoniesucht und Angst vor Zurückweisung nicht sagte.
Bämm. Da steht es jetzt. Radikal ehrlich. Das bin ich. Lies die letzten beiden Sätze ruhig noch mal. Und ich gehe noch weiter: ich spielte die Rolle der Asja so perfekt, das nicht nur andere mir glaubten, sondern ich selbst von mir total überzeugt war. Gut, in stillen Stunden hatte ich schon Zweifel, aber ich gebe zu: die Rolle derjenigen, die immer auf alles eine Antwort hatte, immer half, nie nein sagte, vor Verständnis platzte und hoch erhobenen Hauptes "Heile, heile, Gänschen" singend durch die Welt schritt, gefiel mir einfach zu gut. Ich war besser. Ich war die mit dem Plan. Die, die sich stundenlang ein Ohr abkauen ließ, von allen und jedem. Ob ich sie nun näher kannte oder überhaupt mochte, war dabei egal. Alles kostenlos natürlich. Hätte ich Geld dafür genommen, hätte ich mich vor schlechtem Gewissen übergeben müssen. Deswegen klappte es auch mit der Selbstständigkeit als Therapeutin nicht. (Gott sei Dank! Sonst wäre ich bestimmt schon tot!)
Nach den Schlaganfällen suchte ich händeringend nach Worten, nach einer Erklärung, nach dem Sinn. Ich war erschüttert. Schockiert. Entsetzt. Total ratlos. Und versuchte stark zu sein, alles wegzulachen, so wie ich es immer getan hatte und irgendwie das Programm zu fahren, das mich die letzten 35 Jahre vermeintlich gerettet hatte: Stell dich nicht so an. Niemand sollte sehen, wie meine Fassade bröckelte. Und das tat sie, Stück um Stück, ganz langsam. Über Monate. Bis nichts mehr übrig war, außer einem depressiven, angstgestörten Stück Mensch, das die Welt beschimpfte und sich ungerecht behandelt fühlte.
Irgendwann auf dem Weg da hin biss ich das erste Mal in meinem Leben um mich. Es war ein bisschen, wie ich es von Hunden kenne. Anfangs zeigte ich kurz die Zähne, dann knurrte ich und dann biss ich das erste Mal zu. Ohne Nachzudenken, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Einfach rein ins Fleisch. Hauptsache du hörst jetzt mit dem auf, was du da gerade tust.
Eine spannende Erfahrung, die dazu führte, dass sich mehrere Freundschaften verabschiedeten, weil man offensichtlich mit einer Asja, die sich so verhielt, nicht umgehen konnte. Was stimmt nicht mit dir? Hast du einen Schaden am Kopf erlitten durch deine Schlaganfälle? Als jemand das zu mir sagte, war ich entsetzt. Und enttäuscht. Zu Recht. Denn ich war aus einer Täuschung erwacht, der ich mich selbst hingegeben hatte: ich hatte gedacht, dass alle so mit mir umgehen würden, wie ich mit ihnen. Infantiler Scheißdreck. (Ok, wo wir gerade so schön ehrlich sind: so ganz im Griff habe ich meine Bitterkeit noch nicht, aber ich bin aus dran. Pure Selbstsucht. Keine Sorge.)
Ich gestehe: Das erste Mal in meinem Leben verstand ich wirklich, was eine Projektion ist (und wozu wir sie alle dringend brauchen!), als ich mir einen Gesprächskreis zu "radical honesty" anschaute. Ich beobachtete meine Genervtheit als sich eine junge Frau den Raum für ihren "Scheiß" nahm und erkannte, warum. Das hatte ich nie gemacht. Es war der pure Neid, der mich da antriggerte. Ich bestaunte die Langsamkeit, in der sich Dialoge entwickelten und musste es aushalten, dass es eben nicht schnell, schnell ging. (Eine meiner größten Herausforderungen, die ich nach den Schlaganfällen lernen darf, ist Langsamkeit.) Über meine Schlaganfälle hinweg nahm ich mir das erste Mal in meinem Leben einen riesigen, monatelangen Raum zum Jammern und Schimpfen. Der war nach 35 Jahren auch bitter nötig. (Sorry, Mama.)
Mit dem Konzept der "radikalen Ehrlichkeit" war eine Idee geboren, mit der ich mir Transformation für meine aktuelle psychisches Situation und letztlich Reifung erwarte. Das wird eine spannende Reise und ich bin gespannt, wie ich wirklich bin. Das weiß ich nämlich gar nicht.
Es gibt noch eine Menge zu tun. Fangen wir an.
Bei Interesse: https://www.radicalhonesty.com/
Gratulation Schätzilein
(dicker Knutsch)
Das Schicksal ist manchmal ein echtes A....loch und in seiner Unbarmherzigkeit wenig bis nicht erträglich.
Endlich bist Du soweit, Du selbst zu werden und ich bin gespannt, denn Dein zauberhaftes Wesen wird am Ende nicht verloren gehen, sondern in gesunder Weise mit anderen interagieren.
Ich drück Dich