Über den Zaun geschaut
- Asja
- 26. Okt. 2022
- 2 Min. Lesezeit
Ich habe einen Nachbarn, den ich sehr mag. Eigentlich ist er mir der Liebste aus meiner gesamten Nachbarschaft. Er ist etwa 40 Jahre alt und ist geistig behindert.
Sein kindliches Gemüt in dem Körper eines erwachsenen Mannes ist manchen Menschen sichtlich unangenehm. Oft steht er in der totalen Entdeckerfreude am Gartenzaun und beobachtet die Welt um sich herum. Manchmal spricht er die Menschen an, wenn sie am Grundstück seiner Familie vorbeilaufen - meist aber bleibt er in abwartender Haltung stehen und schaut die anderen Menschen direkt und mit unverhohlener Neugier an.
Viele haben mit Menschen wie ihm auch heute noch Berührungsängste. Eine Bekannte, die mit ihren Kindern zu Besuch war, sagte einmal zu mir: „Da steht ein Typ am Zaun, der guckt die Kinder so komisch an.“ Ich beruhigte sie, denn ich wusste: er hatte ausschließlich seine Freude am Spiel der Kinder. Dabei beobachtete ich oft, dass er alles wahrnahm, was passierte. Er ging mit und lachte, wenn die Kinder lachten. Er verzog sein Gesicht, wenn eines der Kinder sich weh tat und weinte. Und er schwang immer so ein bisschen hin und her, als wäre er in stiller Freude doch irgendwie im Spiel mit dabei.
Am liebsten schaue ich ihm zu, wenn er den Gehweg fegt: er macht einen Besenstrich nach dem anderen, ganz gewissenhaft, ganz langsam. Fegen beim Fegen, würde ein Meditationslehrer sagen. Er braucht mehr als zwei Stunden für die 15 Meter Gehweg vor dem Grundstück seiner Familie. Viele sehen einen Menschen, der halt einfach langsam ist.
Ich sehe eine besondere Seele, die in tiefster Kontemplation den Gehweg fegt. Ich sehe eine zutiefst bewusste Seele, die egal was um sie herum passiert, bei sich bleibt. Selbst, wenn andere aus seiner Familie ihn anschreien oder wütend den Besen aus der Hand reißen, bleibt er ganz still stehen und man erkennt in seinem Gesicht für einen kurzen Moment das Aufflackern einer Irritation, weil er die Reaktion nicht versteht. In seinen Augen hat er doch alles richtig gemacht. Dann zuckt er die Schultern und wendet sich ohne offenbaren Schmerz einer anderen Arbeit zu. Wahrscheinlich, da er die Demütigung durch den anderen nicht persönlich nimmt.
Bewusstsein hat nichts mit Intellekt oder Intelligenz zu tun. Bewusstsein IST und so ist dieser geistig behinderte Mann in seinem Sosein einer meiner größten Lehrer.
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